1871-1914 – Die Pinneberger SPD im Kaiserreich

Von Bismarck (1815-1898) zum "Reichsfeind" gestempelt, wurde die SAP durch das Gesetz "wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" 1878 verboten. Zudem wurden alle Organisationen der SAP, ihre Presse und die von ihr aufgebauten Gewerkschaften durch dieses "Sozialistengesetz" verboten – die Reichstagsfraktion jedoch blieb weiter bestehen. Ausnahmegesetze, polizeistaatliche Unterdrückung und Terror konnten den Aufstieg der Sozialdemokratie aber auch in Pinneberg nicht verhindern. Unter dem "Sozialistengesetz" verdreifachte die Partei ihre Wählerstimmen und erhielt 1890 bei den Reichstagswahlen mit knapp 20 Prozent erstmals die meisten der abgegebenen Stimmen. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts, der gegen sie gerichteten Wahlbündnisse der bürgerlichen Parteien sowie der die SAP stark benachteiligenden Wahlkreiseinteilung erhielt diese als stimmenstärkste Partei jedoch nur 35 der 391 Mandate. Die Verfolgung unter dem "Sozialistengesetz" hinterließ in der SAP tiefe Verbitterung und machte marxistische Ideen attraktiv und populär. Nach der Nichtverlängerung des "Sozialistengesetzes" gründete sich die SAP 1890 offiziell als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) neu.

Verfolgung, Ausweisung aus der Heimat und Berufsverbote trafen zu dieser Zeit auch die Sozialdemokraten in Pinneberg. Am 8. August 1878 ergänzte Landrat Voerster seinen Bericht nach Schleswig um ein „Verzeichnis der im Kreis Pinneberg vorhandenen socialistischen Vereine“ und ein „Verzeichnis der socialdemokratischen Agitatoren“, die Grundlage für spätere Ausweisungen waren. Genannt wurden 22 Personen, darunter die Pinneberger Heinrich Fahl und Hermann Rehm. In Pinneberg eröffnete die Polizei Hermann Rehm und Heinrich Fahl daraufhin am 3. Oktober 1880, dass diese laut Ausweisungsverfügung der Regierung zu Schleswig und der Polizeibehörde Hamburg die Stadt innerhalb von 3 Tagen zu verlassen hätten, andernfalls drohe eine Geldstrafe in Höhe von bis zu 1000 Mark oder sogar eine Haftstrafe. Befriedigt vermerkte die Polizei am 6.11.1880, dass Rehm am Vortage zu seinen Eltern nach Pansdorf bei Lübeck gereist sei und in Lübeck Arbeit suchen wolle. Heinrich Fahl war mittlerweile schwer erkrankt. „Wie rücksichtslos die Polizei vorging, erhellt aus dem Umstande, dass sie selbst Kranke, Krüppel und Greise auswies, Leute, die seit Jahren nichts mehr mit der Sozialdemokratie zu tun hatten.“ Der an schwerer Lungenkrankheit leidende Fahl hatte an jenem Tag, an dem er die Ausweisungsurkunde erhielt, zum ersten Male wieder das Bett verlassen. Vor Schrecken erlitt er einen erneuten Blutsturz. Trotzdem sollte er fortgeschafft werden, und nur der Einspruch der Ärzte verhinderte es.

Jeder Sozialdemokrat, der nach 1878 akut von Ausweisung, Verhaftung und Vernichtung in seiner materiellen Existenz bedroht war, musste sich in „rechtsschänderischer, brutaler Weise vergewaltigt“ fühlen. Unter Abwägung dieser Perspektiven entschieden sich viele zur Abkehr von ihrer politischen Tätigkeit, wenn nicht gar zur Abkehr von ihrer politischen Gesinnung. Zahlreiche Mitglieder verließen die Partei. Es trennte sich die „Spreu vom Weizen, die Halben und die Lauen, die Sportsozialisten und Feiglinge verschwanden von der Bildfläche“.

Einen Mann wie Hermann Molkenbuhr, der nicht zu den Letztgenannten gehörte, als Helden zu bezeichnen, wäre sicher zu hoch gegriffen. Aber er blieb in der bis dahin schwierigsten Zeit für die Sozialdemokratie seiner Gesinnung und seiner Partei treu und leistete Widerstand unter Inkaufnahme schwerster Diskriminierung. Im März 1890, noch vor dem Fall des Sozialistengesetzes am 1.10.1890, gewann Hermann Molkenbuhr in einer Stichwahl zum ersten Mal den Sechsten Schleswig-Holsteinischen Reichstagswahlkreis Pinneberg-Elmshorn mit 53 % der Stimmen für die Sozialdemokraten. Die SPD wurde stärkste Partei im Reichstag und Pinneberg hatte sich als „rote Hochburg“ bestätigt.

Das 1891 verabschiedete Erfurter Programm vertrat einen dogmatischen Marxismus, gegen den die sozialreformerische Politik der Freien Gewerkschaften sich jedoch immer stärker behauptete. Führender Theoretiker der "Revisionisten" war Eduard Bernstein. Erbittert bekämpft wurde der Revisionismus von führenden Sozialdemokraten wie August Bebel, Karl Kautsky, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin. Unbeschadet des innerparteilichen Streits um die richtige Theorie war die SPD die mit Abstand mitgliederstärkste Partei vor dem Ersten Weltkrieg und stellte 1912 erstmals auch die stärkste Reichstagsfraktion. Die SPD war vor allem die Partei protestantischer und konfessionsloser Industriearbeiter, aber sie hatte auch im Mittelstand Anhänger. Keine andere Partei unterhielt im Kaiserreich ein so dichtes Organisationsnetz von Vereinen, keine andere Partei prägte das soziokulturelle Milieu ihrer Anhänger so wie die SPD das der Arbeiterschaft. Noch vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich im Reichstag eine parlamentarische Zusammenarbeit zwischen der SPD und den bürgerlichen Mitte-Links-Parteien, auf regionaler Basis hatte es bereits vorher Koalitionen gegeben.

Am 7. Februar 1892 fand in der Pinneberger Zentralhalle eine Volksversammlung statt. Anschließend wählten die Versammelten dort den Schneidermeister Heinrich Preuß als Delegierten für den bevorstehenden sozialdemokratischen Provinzparteitag in Neumünster. Auf diesem Parteitag ging es vor allem um die Frauenfrage. „Die Vortragende behandelte die Lage der arbeitenden Frauen und forderte dieselben auf, die Männer in der Ausbreitung der Socialdemokratie zu unterstützen.“ Am 29.9.1893 bestätigten die Teilnehmer einer „öffentlichen Parteiversammlung“ einstimmig Heinrich Preuß als Pinneberger Vertrauensmann.

Das Hamburger Echo berichtet im April 1896 von einer begeisterten Frauenveranstaltung mit der Politikerin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin in der Pinneberger Zentralhalle. Weiterhin war die Genossin und Mitbegründerin des „Zentralvereins der Fabrik- und Handarbeiterinnen“, Wilhelmine Kähler, Gastrednerin in Pinneberg.

In dieser Zeit wurde das verstärkte Engagement der Frauen für die Sozialdemokratie vermerkt. So schrieb der Pinneberger Landrat Scheiff im Juni 1893 zum Ablauf der Reichstagswahlkampagne: „Eine diesmal besonders stark hervortretende Erscheinung war das Eingreifen der Frauen in die Wahlagitation.“ Dabei nannte er besonders Wilhelmine Kähler aus Wandsbek. Im August 1894 notierte Scheiff: „Ein Weiterumsichgreifen der sozialistischen Ideen, namentlich auch unter der weiblichen Bevölkerung ist in der Stadt Pinneberg bemerkt worden.“

Im Jahre 1899 wurde im sozialdemokratischen Traditionslokal Zentralhalle die „Freie Turnerschaft Pinneberg“ in Abgrenzung zu den beiden bürgerlichen Sportvereinen gegründet. Wie vorher schon bei Friedrich Ludwig Jahn, standen auch diese Turner in Verdacht, nicht Staatstreu zu sein. Deswegen war es verboten, jugendliche Mitglieder, vor allen aber Kinder, auf dem Turnplatz zu dulden. Das Verbot wurde von den Polizeikräften energisch kontrolliert und oft mussten Kinder mit brachialer Gewalt am Turnen oder Ringen gehindert werden. Auch die Mitglieder vom Athletenclub „Eiche“ waren nicht beliebt bei den Behörden. Wirt Schmidt stellte die Turngeräte und wirkte im Vorstand mit, Ernst Fliegner wurde zum Vorsitzenden gewählt. 1910 verkaufte Schmidt die Zentralhalle an C. Baumann. Der wiederum konnte die Zentralhalle nicht halten und übernahm „Waldesruh“ an der Bahnhofstraße. Der Turnverein zog mit und konnte bald sogar eine eigene, gemietete Halle benutzen, die Baumann mit Hilfe einer Uetersener Brauerei an der Bahnhofstraße neben Bier-Schmidt erbauen ließ. Das Glück währte nicht lange, denn 1913 musste Baumann Waldesruh wieder verkaufen. Die Stadt erwarb die Turnhalle und kündigte als erstes dem Arbeiterturnverein. Der zog jetzt in sein letztes Domizil vor dem 1. Weltkrieg, die Linde (später Schauburg) im jetzt eingemeindeten Pinnebergerdorf.

Im Jahre 1900 eskalierte in Pinneberg ein schon länger schwelender Konflikt mit neuen Frontlinien: Aufgeklärtes Bürgertum und Sozialdemokratie gemeinsam gegen Landrat Scheiff, der dabei so in die Ecke gedrängt wurde, dass seine gesammelten Rechtfertigungsschriften an das Regierungspräsidium fast ein Buch füllten. Zum 15. Juli 1900 hatten sozialdemokratische Wahlvereine ein großes Volksfest in der Pinneberger „Eiche“ geplant, zu dem nach der Ankündigung des Pinneberger Wochenblattes 3.000 Teilnehmer erwartet wurden. Obwohl vom Pinneberger Bürgermeister Kosack erlaubt, verbot Scheiff die Veranstaltung, da politische Vereine keine Feste mit Damen feiern durften. Die Tanzveranstaltung fand trotzdem erfolgreich statt und Landrat Scheiff soll außer sich gewesen sein. Pinneberg hatte zu dieser Zeit 4147 Einwohner zu verzeichnen.

Ernst Fliegner war 1905 erster Vorsitzender der Pinneberger SPD, ab 1906 gefolgt von Johannes Knaack, 1908 von Richard Köhn und später von Heinrich Knuth. Der letzte Vorkriegsvorstand vom März 1914 bestand aus Otto Plettenberg als 1. Vorsitzender, Heinrich Preuß als 2. Vorsitzender, Johannes von der Heide als Schriftführer, Wilhelm Behnke als Kassierer und Maria Plettenberg als Beisitzerin. Ernst Fliegner lud für jeden 2. Donnerstag des Monats in der „Centralhalle“ zu einer Versammlung ein, die vorab bei der Polizei angemeldet werden musste und auch unter dessen Beobachtung in Person des Polizeisergeanten Engel stand. Über den Verlauf der Versammlung führte er genaues Protokoll. „Frauenspersonen und Lehrlinge“ hatten laut Anweisung des Bürgermeisters dabei keinen Zutritt.

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