Ein Erfolg für 6000 Pinneberger*innen: Sozialpass beschlossen

Dieser soll die Teilhabe am öffentlichen Leben erleichtern

Manchmal kommt es anders als man denkt. Eigentlich sollte hier etwas darüberstehen, wie die SPD seit Jahren für den Sozialpass gekämpft hat, warum es gut ist, dass die Ratsversammlung ihn gestern beschlossen hat und welche Vorteile er für mehr als 6.000 Pinneberger*innen haben wird. Die übliche Social-Media Selbstbeweihräucherung halt. 

Doch dann kam Christine Stollhofer. Die Pinneberger Bürgerin hielt in der Bürgerfragestunde der Ratsversammlung eine bewegende Rede zum Thema Sozialpass, die wir hier gekürzt veröffentlichen.

Sie machte uns klar, für wen wir die ganze Sache hier eigentlich machen. 

Danke Christine!

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Sehr geehrte Mitglieder der Ratsversammlung, 

ich wende mich heute an Sie, um eine Perspektive zur Erweiterung des Sozialpasses einzubringen. 

Ich lebe im Bodderbarg hier in Pinneberg, bin 32 Jahre jung und beziehe derzeit Leistungen nach SGB II - gemeinhin als “Hartz 4” bekannt. Aufgrund meiner gesundheitlichen Situation habe ich schon viel Erfahrung mit dieser Einkommensart gesammelt und möchte Sie deshalb ausdrücklich bitten, für die Erweiterung des Sozialpasses zu stimmen. 

Es ist immer leicht, marginalisierte Gruppen zu vergessen, wenn man selbst von etwas nicht betroffen ist. Jeder Mensch hat eigene Probleme, Hürden und Schwierigkeiten. Ich verstehe das - was man nicht selbst erlebt, zweifelt man zunächst an. Wir leben in einer Gesellschaft, die es selbstverständlich in Kauf nimmt, dass marginalisierte Gruppen Nachteile in Kauf nehmen müssen, die schlichtweg unmenschlich sind. 

Um es gleich vorweg zu nehmen: Gerne wird immer wieder argumentiert, Deutschland habe eines der fortschrittlichsten Sozialsysteme, und “man solle doch froh sein, dass überhaupt eine Grundversorgung existiere”. Undankbarkeit wird den Menschen unterstellt, die “am Rande der Gesellschaft” leben - solange du etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf hast, hast du froh zu sein und am besten den Mund zu halten.

So werden auch in unserem hochgelobten System Menschen, die nicht arbeiten können - aus den verschiedensten Gründen - von außen verurteilt und abgewertet. Die Gründe werden in “gute, akzeptable Gründe” und “Ausreden” unterteilt. Unter Ausreden fallen im 21. Jahrhundert leider häufig immer noch unsichtbare Krankheiten und Neurodivergenz wie ADHS oder Autismus.

Vor allem aber wird ihnen nicht zugehört. 

Und bitte, verweisen Sie jetzt nicht auf die eine “Stimme”, die jeder Bürger unseres Landes hat, um sich einzubringen. Die allermeisten Menschen, die ich kenne, die von Grundsicherung oder Hartz IV überleben müssen, haben andere Sorgen und es fehlt Ihnen die Kraft, politisch aktiv zu sein oder sich zielführend einzusetzen. 

Deshalb spreche ich heute für all jene, die zu selten gefragt werden. 

Für die, die die Hoffnung und das Vertrauen in die Politik und die Möglichkeit der Veränderung und Einflussnahme verloren haben und sich deshalb nicht äußern, nicht wählen gehen, oder schlimmer noch, sich extremeren Gesinnungen zuwenden, die einfache Lösungen dadurch versprechen, dass sie Menschen in Gruppen einteilen und diese gegeneinander ausspielen. Die grundlegende Sicherung der körperlichen UND seelischen Gesundheit sollte darüber hinaus keine Frage der Parteiausrichtung sein. Die Rechte eines jeden Menschen auf körperliche und seelische Unversehrtheit sollte die unanfechtbare Grundlage jeder politischen Arbeit sein - erstaunlich genug, dass dies noch immer nicht der Fall ist und überdies über den Begriff “seelische Gesundheit” diskutiert wird, als wäre der Inhalt reine Ansichtssache, nicht jedoch nach der Ansicht von Experten, sondern der der Regierenden. 

Sie mögen den Begriff “überleben” für übertrieben halten und sich darüber empören. Um das “nackte” Überleben sollte niemand kämpfen müssen. Aber das sollte der absolute, unbestreitbare Standard für alle Menschen sein. Es gibt Länder, in denen es schlimmere Folgen hat, wenn man seine Arbeit oder gar seine Arbeitsfähigkeit verliert. Was aber gewinnen wir dabei, dorthin zu schauen, wo es schlechter gemacht wird? Wieso fragen wir uns nicht, wie wir es noch besser machen können, um mit bestem Beispiel voran zu gehen und kämpfen parallel dazu dafür, dass dieser Standard auch endlich überall auf der Welt erreicht wird?

Gewinnen nicht alle Menschen, wenn es allen Menschen gut geht? Wird jemandem etwas weggenommen, wenn finanziell schwachen Menschen, auch Mittel und Möglichkeiten eröffnet werden, die ihnen eine Teilnahme am Gesellschaftlichen Leben und eine vielfältige Freizeitgestaltung ermöglichen? (der Begriff “sozial schwach” , wie er sonst verwendet wird ist eine Verdrehung der Tatsachen - sozial schwach sind diejenigen, die über finanziell Schwache Menschen urteilen. Sozialkompetenz hat nichts mit dem Kontostand zu tun.) 

Ist es wirklich notwendig, dass wir in einem System leben, in dem Menschen in verschiedene Gruppen eingeteilt und gegeneinander aufgewogen werden, wie es die Haushaltsplanung suggeriert? Geld für Kinder und Schulen ODER für Lohnarbeitsunfähige Menschen?

Im Kontext mit dem Leben in einem dritte Welt Land oder einem Kriegsgebiet sind unsere Sozialleistungen Gold wert. Im Kontext der vermeintlich „modernen“ Welt wird jedoch der stark defizitäre Charakter unserer Sozialleistungen deutlich, weil alles jenseits von Hygiene, Essen und einem Dach über dem Kopf nicht bezahlt werden kann. Dies führt zu Ausgrenzung, Isolation und seelischen Schäden. Die Art, wie solche wissenschaftliche Fakten und die Stimme der Betroffenen ignoriert und als “Anspruchsdenken” abgetan werden, lassen mich verzweifeln.

Es fällt mir schwer, nicht aus Verbitterung zu sprechen, sehr geehrte Damen und Herren, denn die Art, wie über mich und die Personengruppe, der ich angehöre, gesprochen und geurteilt wird, ist alles andere als “christlich”. 

Wie lebendige Menschen, mit einer Seele und einem Beitragswert für diese Gesellschaft, jenseits der Lohnarbeit, zu Zahlen degradiert werden, die es den Entscheidenden leichter machen, die Verantwortung den “Schwächsten” gegenüber emotional weit von sich wegschieben zu können, macht mich sprachlos. Über Zahlen kann man leichter Entscheiden als über die Tatsache, dass hinter diesen Zahlen Schicksale stehen. Menschen, die Ihnen im Supermarkt begegnen, und über deren Lebensqualität Sie mitentschieden haben. 

Fragen Sie sich bitte: Wodurch erlangt, in Ihrer persönlichen Auffassung, ein Mensch das Recht auf ein halbwegs sicheres und angenehmes Leben? Was gehört, für Sie persönlich, dazu? Mussten Sie sich schon einmal ernsthaft Gedanken darüber machen? 

Ich kann Ihnen sagen: Freizeitgestaltung, Ausgleich, Erholung, auch die Weiterbildung (kulturell und intellektuell) ist ein Grundpfeiler körperlicher und seelischer Gesundheit. Ein weiterer Grundpfeiler seelischer Gesundheit ist das Gefühl von Freiheit, Beweglichkeit, das Gefühl, eine Wahl zu haben und selbstbestimmt leben zu können. Sich aussuchen zu können, wie man sein Leben und seine Zeit sinnvoll gestalten möchte.

Bewegungsfreiheit - die Möglichkeit, eine Monatskarte im öffentlichen Nahverkehr bezahlen zu können - all dies sind GRUNDPFEILER von Würde und Gesundheit, denn ein Mensch, der diese Faktoren über lange Zeit einbüßen muss, wird seelisch erkranken. Der ständige Stress, in finanzieller Not zu leben, hält einen Menschen aus.

Armut ist eine Abwärtsspirale, die niemand erleben müsste. Gegen die ich mich mit ganzer Kraft und Seele wehre. Ich will diesen Zustand nicht mehr hinnehmen und ich bitte Sie, sich auf das Richtige zu besinnen, das Richtige zu tun in dieser Abstimmung.

Ich bin ein Mensch, genau wie Sie - und ich habe das gleiche Recht auf ein stabiles, solides Leben wie Sie. Ich werde es aus eigener Kraft jedoch nie erlangen, wenn meine Arbeitsfähigkeit nicht zurückkehrt. Denn selbst, wenn eine Person nach ihrer individuellen Arbeitskraft Lohnarbeit verrichtet wird sich nichts grundlegend verbessern, das Zuflussprinzip der Zuverdienste verhindert, dass eine echte Verbesserung entstehen kann. 

Lebe ich von ALG II werde ich maximal 160 Euro pro Monat mehr bekommen, beziehe ich Grundsicherung werden 70% meines Zuverdienstes angerechnet und ich darf 135 Euro behalten. Obwohl ich nach meiner Kraft, unter Berücksichtigung meiner Erkrankungen, 100% gebe. Ich werde niemals die Möglichkeit haben, meine Situation weiter zu verbessern, egal, was ich tue, wenn meine Arbeitskraft nicht vollkommen wiederhergestellt werden kann.

Während jemand, der mit bester Gesundheit, von finanziell ausreichend gesicherten Eltern, zwei Grundstücken, die er erbt, geboren wurde, durchaus freier entscheiden kann, wie sein Leben weiter verläuft. Obwohl er selbst nichts dafür getan hat.

Andere Menschen haben über mein Leben entschieden. 

Sie haben entschieden, dass der Hartz-IV-Satz genug ist. Menschen, die noch nie von dieser Summe leben mussten, und die meine Würde als nicht genauso würdig und wertig erachten, wie die derer, die arbeitsfähig sind. 

Es ist einfach niemandes Recht, nach eigenem Ermessen zu beurteilen, warum eine Person nicht nach Definition des Kapitalismus arbeitet, wie genau ihre Umstände sind - nur eines kann ich Ihnen ganz sicher sagen: Freiwillig, aus "Faulheit" bin ich ganz sicher nicht Leistungsempfängerin und ich kenne keine einzige Person, auf die das zuträfe. 

Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen und die These aufstellen, dass Menschen, die nicht um ihr seelisches Überleben kämpfen müssen, eher den Antrieb erlangen, etwas beizutragen. Denn auch nicht-kapitalistische Arbeit hat einen sehr hohen Stellenwert. Ehrenämter, ein guter Ansprechpartner für die Freunde zu sein, sich um andere Menschen zu kümmern, ein Kind zu erziehen - es gibt unendlich viele Wege, den eigenen, unantastbaren Wert in unserem Leben zu entfalten und einzubringen. Arbeit ist einer davon, aber nicht der einzige. 

Darum, ich wiederhole meine Bitte: Stimmen Sie heute FÜR die Erweiterung des Sozialpasses. Die vorgesehenen Möglichkeiten, die die Erweiterung beinhaltet, würden mir ein großes Stück Freiheit und Lebensfreude ermöglichen und zurückgeben.

Mögen Sie und Ihre Familie einen ruhigen kommenden Advent und ein gesegnetes Weihnachtsfest haben. 

Bleiben Sie gesund!

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Die Erweiterung des Sozialpasses wurde mit Stimmen der Bürgernahen, der Grünen und der SPD beschlossen. Davon profitieren rund 6.000 Bürgerinnen und Bürger Pinnebergs, die Empfänger von Sozialleistungen sind. Sie könnten unentgeltlich an Kursen und Veranstaltungen der Volkshochschule, an Gruppenkursen der Musikschule und an Veranstaltungen des Pinneberger Stadtmuseums teilnehmen. Einmal monatlich könnte man mit dem Sozialpass ein Gruppenticket für den HVV erwerben und sich die Kosten dafür erstatten lassen. Auch die Bücherei wäre gebührenfrei und der Schwimmbadbesuch wäre kostenlos.

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